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Flucht vor der Wahrheit
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Flucht vor der Wahrheit

Im Frühjahr 2010, nachdem meine Therapeutin nun alles über den Missbrauch wusste, begann ich so langsam mich an die bittere Wahrheit heranzutasten. Das war für mich fast noch schwieriger als über den Missbrauch an sich zu reden. Schon allein der Gedanke daran, dass ich nicht schuld dran gewesen sein könnte, dass ich nichts hätte tun können, dass ich das Opfer gewesen bin und er der Täter, schon allein dieser Gedanke löste in mir solch eine Angst aus, dass es mir mitunter unmöglich war, auch nur in die Nähe dieser Wahrheit zu kommen. Viele Stunden lang haben wir versucht, dieser Wahrheit Stück für Stück näher zu kommen. Oft hatte ich das Gefühl, es würde mich zerreißen, ich könne diese Wahrheit nie und nimmer aushalten.

In dieser Zeit begann ich dann auch wieder mit den Medis, einfach um alles besser aushalten zu können. Immer wieder gab es Phasen, in denen es mir sehr schlecht ging. Es waren sehr heftige Therapiestunden gewesen, die mich mitunter wieder komplett aus der Bahn geworfen haben. So manches Mal hatte meine Therapeutin Mühe, mich am Ende der Stunde wieder ins Hier und Jetzt zu holen, weil ich aufgrund der heftigen Gefühle einfach weggedriftet war. Die Illusion, die ich mir jahrelang aufgebaut hatte, begann allmählich zu schwinden. Und dies war für mich nur sehr schwer auszuhalten. Dazu kamen immer heftigere innere Konflikte und Themen wie Sexualität und Partnerschaft.

Im Mai 2010 gründete ich gemeinsam mit einer Freundin in Innsbruck eine Selbsthilfegruppe für Frauen mit sexuellen Gewalterfahrungen. Die Gruppe wurde sehr gut angenommen, da es in Tirol in dieser Richtung überhaupt nichts gab. Die Gruppe war in dieser Zeit auch eine wichtige Stütze für mich.

Im November 2010 verlor ich dann meine Arbeit. Im ersten Moment war es ein Schock, weil ich nicht damit gerechnet hatte. Aber letzten Endes habe ich es doch als Befreiung angesehen, da die Arbeit mich noch zusätzlich zu meiner Aufarbeitung in der Therapie gestresst hatte. Allerdings hatte dies auch einen negativen Nebeneffekt, ich hatte plötzlich viel mehr Zeit mich mit mir selbst zu beschäftigen und über mich und mein Leben nachzudenken.

Die Therapie ging weiter und es war für mich schwierig, den richtigen Weg zu finden. Es gab Anteile in mir, die wollten vorwärts, andere wollten stehen bleiben und verschnaufen und wieder andere wollten am liebsten gar nicht mehr weiter. Dies hat mich sehr blockiert und mich einiges an Zeit gekostet. Ich war auf der einen Seite sehr frustriert, dass nichts weiter ging, auf der anderen Seite stand aber immer noch meine Angst vor der Wahrheit. Dennoch wollte ich meine neu gewonnene Freizeit auch in der Therapie sinnvoll für mich nutzen und gemeinsam mit der Traumakonfrontation war dies wohl die Zeit, in welcher in der Therapie am meisten vorwärts ging.

 

geschrieben am 23.10.12